
Hilfe für wohnungslose Menschen bedeutet für neunerhaus immer auch medizinische Versorgung. Denn Gesundheit ist eine zentrale Voraussetzung, damit der Weg aus prekären Lebenssituationen gelingt.
neunerhaus bietet seit 2006 ein medizinisches Angebot für obdachlose und nicht versicherte Menschen an. Im neunerhaus Gesundheitszentrum, das mit den neunerhaus Mobilen Ärzt*innen auch aufsuchend tätig ist, werden jährlich knapp 6.000 Menschen medizinisch versorgt – Tendenz steigend.
Das neunerhaus Gesundheitszentrum wird vom Fonds Soziales Wien gefördert und hat einen Vertrag mit der Österreichischen Gesundheitskasse. Die Praxis Psychische Gesundheit wird gefördert aus Mitteln des Ministeriums für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz.
Auszüge aus https://www.neunerhaus.at/
Ajoki Kalo und Alexandra Hornek, beide DGKPs mit viel Erfahrung in der Palliative Care, sitzen mir im digitalen Raum gegenüber, wir sprechen über die Begleitung wohnungsloser Menschen im neunerhaus Gesundheitszentrum sowie über den Bedarf und die Bedeutung von Hospiz und Palliative Care in diesem Setting.
„Ich vermisse den Tod“, sagt Frau Kalo und bemerkt meinen Blick. „Im Gegensatz zur Begleitung auf einer Palliativstation begleiten wir unsere Klient:innen nicht bis zum Schluss. Am Ende sind wir nicht mehr dabei, weil unsere Klient:innen nicht im Gesundheitszentrum, sondern meist an einem ihrer Rückzugsorte versterben.“
Typisch dafür ist die Geschichte von Herrn C, der erstmals 2019 im neunerhaus Gesundheitszentrum mit Schmerzen und Wunden an beiden Unterschenkeln vorstellig wird. Nach zwei Monaten führt die interprofessionelle Zusammenarbeit zu einer Diagnose, die eine komplexe Operation mit anschließendem Aufenthalt in einer Intensivstation erfordert. Wegen der Corona-Pandemie kann er erst nach mehr als 18 Monaten erfolgreich operiert werden. Während der Wartezeit und auch danach hält er sich an alle Termine und medizinischen Empfehlungen, bis alles verheilt ist. Als er nach einem Schlaganfall seiner Mutter, sich um seinen jüngeren, hilfsbedürftigen Bruder kümmert, trinkt er wieder Bier und raucht. Er kennt die Risiken seines Lebensstils, nimmt die Dauermedikation korrekt ein und seine Kontrolltermine wahr. Sein allgemeiner Zustand beginnt sich merkbar zu verschlechtern. Nach einem Rettungseinsatz wegen zunehmender Atemnot, hält das Pflegeteam sein Versterben in absehbarer Zeit für erwartbar. Nur kurze Zeit später verstirbt Herr C. in einem Notquartier.
Was macht die Begleitung wohnungsloser Menschen besonders?
Wenn wir über wohnungslose Menschen sprechen, muss uns bewusst sein, dass diese Menschen aufgrund ihrer Lebensumstände eine weitaus geringere Lebenserwartung haben als nicht-wohnungslose Menschen. Wir sprechen von Menschen in „Multiproblemlagen“: Wohnungslose Menschen leiden fast immer an chronischen Krankheiten, Armut, sozialer Isolation. „Kuration“ (d.h. Behandlung, Heilung) ist oft nicht möglich. Diese Punkte zeigen deutlich, dass viele obdachlose Menschen, besonders jene mit fortgeschrittenen, chronischen und nicht heilbaren Erkrankungen, einen großen Bedarf an – und auch ein Recht auf – hospizliche und palliative Begleitung haben.
Welche Rolle spielt das „Total Pain* Konzept“ in der Begleitung?
Im praktischen Tun geht es ganz stark darum, unterschiedliches Leid zu lindern. Die Begleitung von wohnungslosen Menschen ohne Wissen und Verständnis von Total Pain ist nicht möglich. Das existentielle Leid hat bei unseren Klient:innen nicht den Stellenwert, den wir als nicht-wohnungslose Menschen annehmen. Die Bedrohung ihrer Existenz durch Armut ist für unsere Klient:innen häufig etwas, das sie schon sehr lange kennen, mit diesem Leid können sie gut umgehen, beziehungsweise hat dieses Leid nicht die von uns vermutete Schwere. Der körperliche Schmerz, also die physische Dimension, ist aber oft nicht mehr ausreichend und befriedigend behandelbar. Wir fokussieren uns, wie auch in der spezialisierten Versorgung, auf den ganzen Menschen, und versuchen, vor allem jene Aspekte zu bearbeiten, die für die Betroffenen prioritär und damit einer Linderung am ehesten zugänglich sind. Dabei kann es um klassische Symptomkontrolle gehen, ebenso wie um psychosoziale oder spirituelle Themen.
Viel schwerer als das existentielle und das körperliche Leid wiegt jedoch das soziale Leid. Wohnungslosigkeit und Armut bedeuten Isolation und Isolation geht Hand in Hand mit Einsamkeit. Einsamkeit ist sicher der Hauptschmerz, das Hauptleid der allermeisten unserer Klient:innen. Dazu gehört auch das Fehlen eines eigenen „Schutzraums“, einer Wohnung, in die sich unsere Klient:innen zurückziehen können. Unsere Klient:innen, vor allem wohnungslose Frauen, sind dann sehr oft gezwungen, fatale Zweckgemeinschaften einzugehen. Häufig mit Menschen, die sie unter anderen Lebensumständen nicht mal auf der Straße gegrüßt hätten. All dies führt zu einer schwer auflösbaren Verschränkung verschiedener Dimensionen des Leids.
Wie geht das Team mit diesen schwierigen und intensiven Situationen um?
Unsere Arbeit ist nur durch „In-Beziehung-Sein“ möglich – nämlich sowohl mit unseren Klient:innen, als auch untereinander. Durch Inter- und Supervision, Räume für Diskurs und Reflexion, aber auch in fachlichen Fortbildungen treten wir miteinander in Beziehung und reflektieren unser Tun. Wir schauen, wie es uns gelingen kann, personenzentriert in einem multiprofessionellen Rahmen zu arbeiten. Gerade die Räume zur formellen und informellen Reflexion sind zentral, um uns zu stärken und arbeitsfähig zu halten.
In den Begleitungen stehen wir immer wieder vor der Herausforderung, nicht zu wissen, wie die Beziehung zum:zur jeweiligen Klienten/Klientin beim nächsten Kontakt aussehen wird. Wird er/sie überhaupt kommen? In welchem Zustand wird er/sie sein? Wie das seelische und körperliche Befinden? Um mit diesen Unsicherheiten umgehen und trotzdem qualitätsvoll begleiten zu können, muss eine Vertrauensbasis zwischen den Klient:innen und uns entstehen.
Dazu sind die Peer-Mitarbeiter:innen wichtig. Sie sind hauptamtliche Mitarbeiter:innen, die selbst einmal wohnungslos waren und nach einer speziellen Ausbildung, einem achtmonatigen Lehrgang für Peer-Arbeit in der Wohnungslosenhilfe, in den Teams mitarbeiten, und zentral in der Vertrauensbildung. Denn wir, nicht-wohnungslose Menschen, können nur begleiten, wissen aber nicht, wie es in Wirklichkeit ist, wie es sich tatsächlich anfühlt, wohnungslos zu sein. Wir können von außen maximal erahnen, wie es sich anfühlt, ständig in Sorge zu sein, in Scham und Isolation zu leben. Unsere Peer-Kolleg:innen sind das verbindende Element im Team zwischen uns und unseren Klient:innen. Ohne sie wäre eine Begleitung oft nicht möglich.
Was braucht Ihr, damit es Euch gutgeht?
Autonomes, selbstbestimmtes Arbeiten innerhalb eines multiprofessionellen Team ist sehr wichtig. Räume, um im Team, aber auch alleine zu reflektieren, in den Diskurs zu gehen, Auseinandersetzung und Diskurs zu leben. Und evidenzbasiertes Wissen als Unterstützung für ein qualitätsvolles Arbeiten nutzen zu können.
Über allem steht unsere Haltung, dass hospizliche und palliative Begleitung unbedingt allen Menschen zusteht – egal, ob sie wohnungslos sind oder nicht. Wir sind alle Menschen.
Das Gespräch führte Marianne Buchegger
Ajoki Kalo ist Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflege, Pflegetherapeutin für Wunde, Kontinenz und Stoma mit der Weiterbildung für Palliative Care und vielen Jahren Praxiserfahrung in der End of Life Care und Early Palliative Care. Seit über fünf Jahren im neunerhaus Gesundheitszentrum und Teamleitung der Pflege.
Alexandra Hornek ist Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflege, Pflegewissenschaftlerin, Weiterbildung Wundmanagement und Palliative Care, langjährige Praxis in der spezialisierten mobilen Palliativversorgung, Lehrtätigkeit. Seit 2021 im neunerhaus Gesundheitszentrum im Pflegeteam tätig.