Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Herr M und der Schmerz – eine Geschichte zu Total Pain

veröffentlicht am

Herr M ist über 80 Jahre alt, verwitwet und lebt allein in seiner Wohnung. Zu seinen Töchtern und Enkelkindern hat er ein gutes Verhältnis, er freut sich immer, die „Rasselbande“ zu sehen. Der Tod seiner Frau macht ihn nach wie vor immer wieder traurig. Wenn er an sie und ihre vielen gemeinsamen Jahre denkt, wird ihm schwer ums Herz. Es schmerzt ihn in der Brust, aber eigentlich schmerzt sein gesamter Körper.

In den letzten Monaten sind die Traurigkeit, seine Schmerzen und auch die Vergesslichkeit mehr geworden. Herr M‘s Töchter beginnen, sich zu sorgen. „Geht es daheim noch?“ „Braucht Vater Unterstützung?“ Eine Abklärung  bei verschiedenen Ärzten stellt altersbedingte Abnutzungserscheinungen der Gelenke fest, sonst ist alles in Ordnung. Herr M klagt weiterhin über Schmerzen, die immer wieder sehr intensiv zu sein scheinen.

Die Töchter beraten gemeinsam mit dem Hausarzt, ob mehr Struktur untertags und Gesellschaft helfen würden? Der Hausarzt der Familie bestärkt die Töchter darin, immer wieder das Gespräch mit ihrem Vater zu suchen und über den Besuch in einem Tageszentrum zu sprechen.

Herr M ist skeptisch, aber den Töchtern zuliebe geht er einmal mit in dieses Tageszentrum, zu einem ersten Gespräch. Wider Erwarten ist es dort hell und freundlich, es sind keine „komischen“ Menschen dort. Herr M stellt weiter fest, dass die meisten der anwesenden Tagesgäste fröhlich sind und unterschiedlichen Aktivitäten nachgehen, dass Gemeinschaft gelebt wird. Sein Herz fühlt sich warm und wohlig an.

Herr M stimmt dem regelmäßigen Besuch des Tageszentrums zu. Anfänglich telefonieren die Töchter noch öfter mit den Mitarbeitenden, um nachzufragen.

Tatsächlich ist es so, dass zu Beginn des Tages im Tageszentrum Herrn M häufig klagt, dass er schlecht geschlafen hat, und überhaupt, es tue ihm alles weh. Die Mitarbeitenden des Tageszentrums nehmen Herrn M in seinen Schmerzen ernst, sie nehmen ihn und sein Dasein wahr und respektieren, dass Herr M an nur wenigen Aktivitäten – aufgrund seiner Schmerzen, wie er sagt, – teilnehmen will. Im Laufe der Zeit verändern sich Herrn M‘s Schmerzäußerungen. Es wirkt so, als ob die Schmerzen weniger werden dürfen, wenn das Wohlfühlen und die Sicherheit steigen.

Herrn M‘s Geschichte zeigt, dass Schmerz niemals nur eindimensional ist. Schmerz besteht aus vielen Teilen, und wird dadurch allumfassend, zu allumfassendem Leid. Dame Cicely Saunders nannte dieses allumfassende Leid treffend „Total Pain“.

Die von ihr beschriebenen Dimensionen sind:

Die physische Dimension – der körperliche Schmerz/ das körperliche Leid (z.B. Wundschmerz)

Die psychische Dimension – der seelische Schmerz/ das seelische Leid (z.B. der Verlustschmerz)

Die spirituelle Dimension – der existentielle Schmerz/ das existentielle Leid (z.B. Wut auf Gott)

Die soziale Dimension – der soziale Schmerz/ das soziale Leid (z.B. Einsamkeit)

Die Herausforderung für alle in der Pflege und Betreuung Tätigen, aber auch für die An-und Zugehörigen ist es, diese Vielschichtigkeit des Schmerzes, des Leids auszuhalten und mitzutragen. Dazu ist der regelmäßige Austausch mit anderen unbedingt notwendig, um zu reflektieren, um den eigenen Schmerz und das eigene Leid nicht mit dem des/der zu Betreuenden, des/der zu Pflegenden zu vermischen.  Die Herausforderung ist es, zu erkennen, wo die eigenen Grenzen liegen, diese bewusst wahrzunehmen und dieses Wissen in den Umgang mit den zu betreuenden Menschen zu integrieren.

Mag.a Marianne Buchegger, ehrenamtliche Mitarbeiterin im Dachverband Hospiz Österreich im Bereich Blog, Mitarbeiterin der Caritas Socialis (Bereich Mobile Pflege und Betreuung und Leitung Tageszentrum)