Marianne Buchegger im Gespräch mit Maria-Regina Kugler.
Ich treffe Maria-Regina Kugler, die das HoMiB-Team (Hospizbegleitung für Menschen mit individuellen Bedürfnissen) der Hospizbewegung Diakonie in Kärnten leitet, zum Telefoninterview. Ich begegne einer Frau, die sagt: „Das Begleiten von Menschen mit Behinderungen ist eines meiner Lebensthemen“ – und das wird deutlich. Jeder Satz, den sie spricht, ist geprägt von unbedingtem Respekt und Zuneigung. Wenn sie von Haltung spricht, ist diese Haltung, die sie meint, durch das Telefon spürbar. Ich habe Frau Kugler um ein Beispiel einer Begleitung gebeten, im Folgenden berichtet sie über Herrn W.
Wir spüren, dass Hr. W. seinen letzten Lebensweg beginnt, er lebt seit über 30 Jahren in einem Wohnhaus, in dem Menschen mit Behinderungen begleitet werden.
Fragen tauchen auf…. wie können wir ihn begleiten, können wir es überhaupt?
Die Meinungen der Mitarbeitenden driften auseinander.
Was möchte Hr. W.? Wie finden wir seine Bedürfnisse heraus? Seine Kräfte sind schwach, er kommuniziert nur mit den Augen, ist nonverbal, versteht einfache Sätze.
Viele Stunden sitze ich nachts an seinem Bett um einen Weg zur Kommunikation zu finden.
Wir üben den Handdruck….
1x drücken bedeutet Ja, 2x drücken bedeutet Nein.
Wir üben und üben….
In der nächsten Nacht frage ich: „Möchtest du ins Krankenhaus?“ Wird es klappen mit dem Handdruck? Ich bin verunsichert. Plötzlich drückt er meine Hand ganz fest 2x!
„Fühlst du dich hier geborgen?“ > 1x fest gedrückt
„Du weißt, dass du sterben wirst?“ > 1x gedrückt
„Möchtest du hier in deinem Zimmer sterben?“ > 1x fest gedrückt
Ich spüre, er wartet auf jemanden.
„Wartest du auf deinen Vater?“ > 1x sehr fest gedrückt
Sein Vater, der ihn Zeit seines Lebens nicht akzeptiert hat, lebt noch. „Dieser behinderte Kerl ist nicht mein Sohn“, war eine vom Vater getätigte Aussage.
Seine Mutter ist schon viele Jahre tot.
Ich rufe den Vater an. „Ihr Sohn wird bald sterben, er wartet auf Sie.“ „Nein, ich komme nicht.“
„Er wartet auf Sie“, ich beende grußlos das Telefonat.
Der Vater kommt, geht sehr zögerlich mit gebeugtem Kopf in das Zimmer.
Nach rund einer Stunde kommt er mit erhobenem Haupt und mit Tränen in den Augen aus dem Raum, umarmt mich und sagt: „Danke!“
Zwei Tage später stirbt Hr. W. Er hat ein wunderschönes, friedliches Antlitz.
Im Laufe unseres Gesprächs frage ich Frau Kugler, ob es Besonderheiten in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen gibt.
„Eigentlich“, so sagt Maria-Regina Kugler, „ist die Begleitung von Menschen mit Behinderungen nicht so unterschiedlich zu den Begleitungen von Menschen ohne Behinderungen.“ Sie erzählt: „Die Haltung, und damit verbunden die Sprache, sind das Zentrale – wir begegnen in unseren Begleitungen Menschen, die eine Behinderung haben. Aber diese Behinderung stellt nur einen Teil dieses Menschen dar. Dieser Mensch hat, genauso wie alle anderen, eine eigene Biografie, Gefühle, ein eigenes Wesen und Wissen. Mein Zugang ist, dass der Geist, der hinter dem Menschen steht, nicht behindert ist.
Körper, Geist und Seele bezeichnen die ganzheitliche Einheit eines Menschen. Mit Geist ist nicht nur das Funktionieren des Gehirns gemeint.
Beeinträchtigungen entstehen durch Fehlfunktionen im Körper, Gene, Sauerstoffmangel bei der Geburt etc.
Daher ist mir die Wortwahl so wichtig – wir begleiten Menschen mit (schwerst-mehrfach) Behinderungen, nicht behinderte Menschen.“
Zum Thema Haltung sagt sie weiter: „Ich frage die Menschen, die sich für das Ehrenamt bei uns interessieren, immer ‚Warum möchten Sie Menschen mit Behinderungen begleiten?‘. Wenn ich dann höre ‚Mei, wenn ich einen Menschen mit Downsyndrom sehe, geht mir das Herz auf‘, dann weiß ich, das passt nicht. War denn das Herz vorher verschlossen?“
Neben der Haltung und der Sprache stellt absolute Kontinuität der Begleiter*innen eine Besonderheit dar.
Frau Kugler erzählt: „Bis zu 500 Verluste muss ein Mensch mit Behinderung im Durchschnitt in seinem Leben erfahren und aushalten – Betreuer*innen, Mitbewohner*innen in Wohngemeinschaften, Ärzt*innen und Pflegepersonen wechseln häufig, auch die Familie ist oft kein stabiler Teil im (Er)leben der Menschen mit Behinderungen. Man kann sagen: diese Menschen sind absolute Verlust-Profis und gleichzeitig, oder gerade deswegen, strahlen sie etwas ganz Besonderes aus. Ich nenne es ‚Universelle Geborgenheit‘. Sie vertrauen, sind bindungsfreudig – natürlich nicht alle – aber doch die meisten.“
Gerade deswegen ist in der letzten Lebensphase absolute Kontinuität in der Begleitung sehr wichtig. Maria-Regina Kugler dazu: „Wissen Sie, diese Menschen sind so bindungsfreudig. Obwohl sie so viele Verluste erlebt haben. Wir können ihnen auf ihrem letzten Weg doch nicht einen weiteren Verlust, in Form von ständig wechselnden Begleiter*innen, zumuten.“
„Aber“, so schließt sie, „was wir den Menschen mit Behinderungen zumuten können und müssen, ist Klarheit. Klarheit in unserer Sprache, in unserer Haltung, in unseren Gefühlen. Klarheit im Sprechen über den nahenden Tod. Nicht fernhalten, um zu schützen, sondern informieren und teilhaben lassen.“
Denn niemand kann vor dem Leben, und dazu gehört der Tod, geschützt werden.
Maria-Regina Kugler hat viele Jahre als Behindertenpädagogin und Leiterin von Wohnhäusern für Menschen mit Behinderungen gearbeitet. 2018 hat sie die das HoMiB-Team der Hospizbewegung Diakonie für die Hospizbegleitung für Menschen mit Behinderungen in Kärnten gegründet. Ebenfalls 2018 hat sie das Curriculum für die Ausbildung der ehrenamtlichen Hospizbegleiter*innen für Menschen mit einer Behinderung verfasst und leitet den dazugehörigen Aufbaulehrgang.