Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Beteiligung und Verständigung

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Im Rahmen unseres Themas Caring Communities bin ich mit Patrick Schuchter zu einem Online-Interview verabredet. Er war einer der Mitinitiatoren und Projektleiter des Projekts iCare – an International Integrated perspective in palliative CARE for dignity and proper support in ageing and approaching end of life am Kardinal König Haus in Wien und arbeitet derzeit im Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care Forschung in Graz an dem Projekt Philosophical practice in palliative care and hospice work The role of philosophical reflection for developing caring cultures and death literacy.

Gemeinsam mit Klaus Wegleitner hat er 2021 das Handbuch Caring Communities – Sorgenetze stärken – Solidarität leben. herausgegeben.

Wie würdest Du Caring Communities definieren und was kannst Du über die Geschichte des Begriffs erzählen?

Der Begriff „Caring Communities“ stammt ursprünglich aus dem Public Health Palliative Care Diskurs und wurde maßgeblich von Allan Kellehear geprägt. Er kritisierte, dass die Hospiz- und Palliativbewegung zwar gut darin ist, Individuen in institutionalisierten Einrichtungen zu versorgen, aber den gesellschaftlichen Aspekt der Sorge am Lebensende vernachlässigt. Kellehear fand, dass der Umgang mit Sterben, Tod und Trauer everyone‘s responsibility – also die Verantwortung aller – ist und daher in alle Gesellschaftsbereiche hineinwirken sollte.

Im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff „Compassionate Communities“ mit dem Begriff „Sorgende Gemeinschaften“ übersetzt oder auch mit dem Anglizismus „Caring Communities“ weiter bezeichnet. Insbesondere Klaus Wegleitner, auch ich und natürlich viele andere waren daran beteiligt, die Idee im deutschsprachigen Raum zur Entfaltung zu bringen, insbesondere im Rahmen des Pilotprojekts „Sorgende Gemeinde im Leben und Sterben“ in Landeck in Tirol, das eines der ersten Projekte dazu war. In meiner Wahrnehmung stößt parallel auch der Begriff der Sorgekultur immer mehr auf Resonanz. Die „Caring Communities“ haben eine bemerkenswert rasche Karriere gemacht und auch in Versorgungskonzepten und Strategien Eingang gefunden, sie finden sich z.B. der Demenzstrategie der GÖG- Gesundes Österreich GmbH und in diversen Förderstrategien wieder.

Wie würdest Du den Begriff Caring Communities definieren?

Ich würde den Begriff nicht eng und nicht fix definieren, da sowohl „Sorge“ als auch „Gemeinschaft“ Begriffe sind, die sehr viel bedeuten. Wenn man zu schnell und eindeutig definiert, dann wird daraus schnell ein konkretes Konzept, das sich Professionisten aneignen und dann gesundheitspolitisch oft allzu standardisiert und allzu geradlinig implementieren wollen. Ich würde sagen, um diese beiden Begriffe ranken sich große gesellschaftspolitische Fragen der Gegenwart. Es kann ein Vorteil sein, Begriffe in einer gewissen Offenheit zu belassen – nur viele mögen das nicht. Aber es ist nun einmal so, dass die großen „philosophischen“ Themen und Fragen konstitutiv vieldeutig sind. Das lädt zu einer gemeinsamen Suchbewegung ein.

Der Begriff ist attraktiv, weil er einerseits auf eine große Not (Pflegenotstand und Personalmangel in Betreuungsberufen allgemein) reagiert und andererseits eine warme, visionäre Vorstellung von Gemeinschaft in einer individualisierten Gesellschaft bietet. Wir wünschen uns mehr Gemeinschaft in einer Gesellschaft, die von anonymen Vergesellschaftungsmechanismen geprägt ist, von Markt und Staat. Die Gefahr dabei ist aber auch, dass über so eine wärmende Vision ein Notstand, der eigentlich staatlich aufgefangen werden sollte, durch ehrenamtliches Engagement oder informelle Sorgearbeit kompensiert wird.

Die Chance oder Vision der Thematisierung von Care liegt darin, allen Widersprüchen und Herausforderungen zum Trotz, damit über lokale Gemeinschaften Gesellschaft gestalten zu können. Ähnlich wie in der Ökologiebewegung, wo oft von kleinen Einheiten ausgehend Veränderungen ins Leben gerufen wurden. Care mehr ins Zentrum zu stellen, beschränkt sich dabei nicht auf die Sorge um Sterbende, sondern setzt viel früher an.

Wie kann man die Entwicklung von Caring Communities fördern und unterstützen? Care ist ja nichts, was man verordnen kann, sondern etwas, was entstehen muss.

Genau! Ich glaube, es gibt zwei Schlüssel, einen von oben und einen von unten. Es ist wichtig, Caring Communities nicht nur als Versorgungskonzept zu begreifen, sondern als Gesellschaftsentwicklungsprojekt. Das macht einen kleinen, aber feinen Unterschied.

Als Versorgungsprojekt in gesundheitspolitischen Strategien und ministeriellen Papieren wird es funktionalisiert. Informelles Engagement wird auf Versorgungslagen hin definiert. Das ist meines Erachtens ein im Ansatz falscher Gedanke.
Der Begriff zieht eben genau dann, wenn man nicht die Versorgungsnotlage in den Blick nimmt, sondern das gemeinschaftsbildende Element.

Eine Caring Community ist ja immer schon da. Man kann es nicht planen und sagen: Jetzt setzen wir das Konzept um und dann ist sie da. Es funktioniert nicht so wie bei der Einführung von technischen Geräten. Bei sozialen Innovationen und Entwicklungen kann man nur Anregungen geben.

Es geht darum, wie wir zusammenleben wollen, auch in Lebensphasen, in denen wir alt oder nicht autonom sind. In diesem Zusammenhang müssen wir große gesellschaftspolitische Fragen thematisieren: Wer sorgt, wer nicht? Wie ist die Geschlechteraufteilung? Wer ist Teil der Gemeinschaft, wer nicht?

Ohne die Thematisierung dieser gerechtigkeits- und gesellschaftspolitischen Fragen bleibt die Idee von Caring Communities naiv. Natürlich würde sich jeder Politiker, der nicht weiß, wie er die Altenpflege finanzieren soll, darüber freuen, dass jetzt wieder die Frauen noch mehr engagierte Arbeit leisten. Aber wenn man so denkt, geraten Caring Communities in ein gefährlich rückwärtsgewandtes Fahrwasser.

Ein Schlüssel zur Förderung von Caring Communities ist, die Idee und Fragestellung in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Jedes Caring Community-Projekt hat in meiner Wahrnehmung irgendeinen kreativen, besonderen Ansatzpunkt, egal ob es von Forscher:innen, Gemeinden oder Vereinen ausgeht. Schon die Thematisierung kann einen Einfluss haben und zu einem Kulturwandel beitragen. Es verändert die mentale Infrastruktur in den Köpfen der Menschen, wenn z.B. in der Bezirkszeitung regelmäßig gemeinschaftliche Anliegen und Sorge-Themen behandelt werden. Die Idee und die Fragen zu streuen, ist ein ganz wesentlicher Punkt.

Es geht nicht nur darum,  was vor Ort passiert, sondern auch darum mitzubedenken, in welchem Zusammenhang es stattfindet.
Wir stehen vor der Herausforderung einer individualistischen, pluralen Gesellschaft. Darin ist Gemeinschaft eigentlich nicht vorgesehen. In vormodernen Gesellschaften waren der Stand und der Clan die soziale Normierung des eigenen Lebenslaufs – aber auch die soziale Absicherung. Diese übernimmt heute der Sozialstaat, die Lebensläufe müssen wir selbst schmieden. Das Individuum, nicht mehr gemeinschaftsförmige soziale Einheiten, ist die kleinste Einheit des Sozialen und steht unmittelbar in Staat und Markt. Das bedeutet aber auch, dass wir die Chance haben, Gemeinschaftsformen neu zu erfinden, die die moderne Freiheit des einzelnen Menschen mit der Sehnsucht nach gemeinschaftlicher Verbundenheit verknüpfen. So entstehen Initiativen wie Kindergruppen, Urban Gardening oder Foodcoops – und alles, was Gemeinschaftsaktionen um ein relevantes Thema bildet. Hier entsteht die Zukunft!

Die Hospizbewegung könnte sich auch stärker mit anderen sozialen Initiativen vernetzen. Es wäre interessant zu überlegen, wie Hospizarbeit mit anderen gemeinschaftsbildenden Aktivitäten zusammenwirken könnte, um das Konzept der Caring Communities breiter in der Gesellschaft zu verankern.

Wie funktioniert in Caring Communities eigentlich das Verhältnis von Professionalität und ehrenamtlichem Engagement? Wie entmutigt man jene nicht, die etwas machen wollen und verhindert zugleich die De-Professionalisierung der Pflege? Die Grenze ist ja nicht definiert. Wie lange probiere ich es selbst und wann hole ich Hilfe?

Diese Frage von Professionalität und der Übergang zu Laien-Wissen und Laien-Können ist ganz zentral, weil wir einerseits ja eine aufgeklärte, gebildete, eigenständige Bevölkerung haben wollen, andererseits der Staat natürlich eine Schutzfunktion hat und eine gewisse Qualität sichern muss. Und Berufe haben natürlich Standards und auch Selbsterhaltungsinteressen.

Also ein Gedanke ist, dass es vielleicht zum Verständnis von Professionalität gehören sollte, dass man nicht nur selbst Dienstleister ist, sondern auch Ermöglicher.

Große Organisationen, die Dienstleistungen im sozialen und im Gesundheitsbereich anbieten, fragen sich oft sehr schnell: Wie können wir ein neues Angebot entwickeln? Das liegt sozusagen in ihrer bisherigen DNA. Aber der Übergang vom Erbringer zum Ermöglicher würde bedeuten, weiter professionell zu bleiben, wenn man sich zum Beispiel auf Koordination und auf „Empowerment“ beschränkt und professionelle Kompetenzen in diesem Bereich stärkt.

Wahrscheinlich müssen wir umdenken: Bin ich nur professionell, wenn ich es selbst mache? Oder auch, wenn ich soziale Zusammenhänge, ein Netzwerk koordiniere und Wissen in der richtigen Dosis dorthinein gebe? Wie diffundiert eigentlich mein Wissen in die Gesellschaft hinein?
Es muss möglich sein, eine solche Ermöglichungsperspektive mit Rechtsinstrumenten und Budgetinstrumenten zu steuern.

In einem Projekt in Emmental, wo Klaus Wegleitner und ich Evaluierungen von Caring Community-Projekten gemacht haben, hat ein Lokalpolitiker uns gesagt: In dem Dorf, wo er lebt, gibt es genau die richtige Dosis an Distanz und Nähe zu den Profis. Es braucht genau die Dosis, wo die Nachbarn sich noch verantwortlich fühlen, nachzuschauen, aber auch, dass die Profis rechtzeitig da sind, wenn man sie braucht.

Das ist quasi eine Augenmaß-Frage und dafür gibt es keinen Messbecher.

Ja, das ist sehr schön gesagt! Es ist eben eine Kulturfrage und Kulturen können nur mit Aufmerksamkeit lokal entwickelt werden. Und deswegen lässt sich ein Caring Community-Projekt aus meiner Sicht auch nicht standardgemäß ausrollen, es sind immer sozial dialogische Prozesse, die man dann anregen muss, und nichts, was man implementiert.

Wie siehst du die Zukunft?

Ich glaube, es kann in zwei Richtungen gehen.

Wenn es in Richtung Gesundheitspolitik geht, besteht ein bisschen die Gefahr der instrumentellen Ausrichtung. Konzepte werden evaluiert, dieses und jenes wird finanziert, in einer Art Institutionalisierungslogik. Das ist einerseits gut, weil dann etwas entsteht, andererseits stirbt dann mit der Zeit der Kern der Idee, das „Feuer“.

Oder es bleibt eine Thematisierungsfigur, die einerseits Sehnsucht, aber auch sozusagen diagnostisch etwas zu bieten hat. Dann stehen wir immer wieder vor der Frage: Wie wollen wir zusammenleben?

Beide Ansätze haben ihre Berechtigung, beide sollen sich entwickeln.

Wir wissen aus der Soziologie, dass sich das Todesverständnis auch mit dem geschichtlichen und kulturellen Rahmen ändert. Die Hospizbewegung ist ja Ausdruck der Babyboomer Generation, der Zeit des Wirtschaftsaufbaus, dem Aus-dem-Vollen schöpfen, den Spendenreichtum nutzen  und Leuchtturmorganisationen aufbauen zu können. Heute haben wir Kriege, die wieder näher kommen, viel Unsicherheit, Aufrüstung, Umweltschutz tritt in den Hintergrund. Wir haben keine religiöse Verankerung mehr, sondern Pluralität. Was bedeutet das für die Jüngeren?

Ich glaube daher, dass wir aus demokratiepolitischen Gründen mehr philosophische Gesprächsorte brauchen, weil wir uns wieder darüber verständigen müssen, was denn unsere gemeinsamen Quellen sind. Wie wollen wir über die sozialen Unterschiede hinweg in einer Demokratie zusammenleben? Es wird sich einiges verändern müssen – nicht woandershin, sondern auf die Quellen unserer eigenen Lebensgrundlagen wieder zu.

Da orte ich auch Potential aus unserem Forschungsprojekt zur Philosophischen Praxis heraus. Wir brauchen lokale, demokratische Verständigungsformate über die großen Themen des Lebens. Nicht als Diskussions-Hick-Hack, wie wir das aus dem Fernsehen kennen, sondern als Dialog endlicher Wesen, die sich ihrer Verwundbarkeit und Endlichkeit inne sind und über existenzielle Kommunikation Verbundenheit über soziale Unterschiede hinweg schaffen. Es ist bedenklich, dass das nur eine „schöne Vision“ zu sein scheint, denn es sollte eigentlich der Kern der sozialen Infrastruktur einer Demokratie sein: Beteiligung und Verständigung.

Wenn Caring Communities eines der Formate ist, in dem lokal die großen Fragen gestellt und Praktiken entwickelt werden, die originell und solidarisch sind und sich mit aktuellen Herausforderungen beschäftigen, dann finde ich das eine spannende Zukunft.

Da könnte auch die Hospizbewegung zur Anwältin gesamtgesellschaftlicher Thematiken werden. Sie hat die Sorgekultur, den Blick vom Lebensende auf das Wesentliche im Leben und dieses existenzielles Tiefenwissen, das gerade die Ehrenamtlichen oft in sich tragen, und all das gehörte eigentlich in die Gesellschaft als Ganzes übersetzt.

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Gespräch führte Catrin Neumüller.

Patrick Schuchter ist Philosoph, Krankenpfleger und Gesundheitswissenschaftler. Er ist tätig in Bildungarbeit, Projekten und Forschung zu Philosophischer Praxis, Sorgekultur, Caring Communities. Aktuell leitet er das Forschungsprojekt „Philosophische Praxis in Palliative Care und Hospizarbeit“ am Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung  (CIRAC) an der Universität Graz. Wer sich für philosophische Einzelgespräche oder in der Gruppe interessiert, kann sich bei ihm melden. Kontakt: patrick.schuchter@gmx.at

„iCare – an International Integrated perspective in palliative CARE for dignity and proper support in ageing and approaching end of life“ ist ein innovatives, interprofessionelles und partizipatives Erasmus+ Projekt unter der Leitung der Organizatia Umanitaria Concordia, Rumänien, in Zusammenarbeit mit dem Kardinal König Haus, Wien, und der Polytechnischen Universität von Leiria, Portugal. Von Februar 2024 bis Dezember 2025 finden sich insgesamt 25 Teilnehmer:innen, Trainer:innen und Vortragende aus Österreich, Rumänien und Portugal in 5 Modulen zusammen, um das „gute Leben und Sterben“ zu reflektieren und zu gestalten. https://concordia-academia.ro/european-union-2/icare-an-international-integrated-perspective-in-palliative-care-for-dignity-and-proper-support-in-ageing-and-approaching-end-of-life/?lang=en