Am 3. Dezember, dem Tag der „Menschen mit Behinderung“ nahm sich Petra Haller Zeit für ein Gespräch. Sie leitet seit einem halben Jahr im Landesverband Hospiz Niederösterreich das Projekt HPCPH & MiB (Hospizkultur und Palliative Care in Alten- und Pflegeheimen & Menschen mit Behinderung).
In unserem Blog geht es in diesem Jahr um das Thema Betroffenheit unter verschiedenen Aspekten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Wie unterscheidet sich die Betroffenheit, das Coping und die Kommunikation von Menschen mit Behinderung zu den Themen Krankheit, Tod und Trauer von anderen und was bedeutet das für die Betreuenden?
Hier gibt es in den letzten zehn Jahren große Veränderungen. Die Erkrankungen bei Menschen mit Behinderungen sind oftmals ähnlich wie in der Geriatrie, weil Menschen mit Behinderungen durch die verbesserte medizinische Versorgung ein höheres Lebensalter erlangen. Dadurch sind bei Menschen mit Behinderungen auch immer öfter lebensverkürzende Diagnosen zu beobachten.
Die Trauer von Menschen mit Behinderungen ist so vielfältig wie die Menschheit. Es gibt teilweise große Trauer, wobei sehr viel Unterstützung bei der Trauerbegleitung notwendig ist, und andererseits habe ich beobachtet, dass einige Menschen trauern, dann aber relativ rasch wieder ihren Alltag aufnehmen und es als Selbstverständlichkeit sehen, dass der Freund, die Freundin, der Mitbewohner, die Mitbewohnerin nicht mehr da ist – teilweise ein recht unkompliziertes Herangehen.
Für die Betreuer:innen ist es ein großes Thema. Einerseits, weil sie dazu kaum Kompetenzen in der Ausbildung erhalten haben und wenig Erfahrung vorhanden ist. Andererseits wohnen viele Menschen mit Behinderungen sehr lange in Einrichtungen – dadurch entsteht ein ganz anderes Naheverhältnis zwischen Betreuenden und Klient:innen als in der Pflege.
Ich komme aus der Pflege, habe lange auf einer onkologischen Station und danach in der Behindertenhilfe gearbeitet und bin jetzt für Langzeitpflege-Einrichtungen für Hospizkultur und Palliative Care zuständig. Das sind drei komplett verschiedene Settings, wie mit Trauer, Sterben und Tod umgegangen wird. Die große Schwierigkeit für Betreuer:innen in der Behindertenhilfe ist einerseits die persönliche Nähe. Auf der anderen Seite sind Mitarbeiter:innen oftmals persönlich mit der Thematik überfordert, so wie so viele mit dem Thema Sterben und Tod in unserem Kulturkreis überfordert sind.
Es kommen häufig Erlebnisse und Verletzungen aus dem privaten Umfeld zutage, wenn beispielsweise ein Familienmitglied erst kürzlich verstorben ist. Durch den Tod eines begleiteten Menschen mit Behinderung wird der Schmerz und die Trauer wieder aktuell. Anderseits sollen Angehörige mit ihren Emotionen professionell abgeholt und begleitet werden. Durch diese hohen Anforderungen an Fachsozialbetreuer:innen entsteht große Unsicherheit.
In der Behindertenhilfe habe ich oftmals beobachtet, dass Mitarbeiter:innen häufig an ihre Grenzen kommen, um Klient:innen gut begleiten zu können. Sie geben ihr Letztes, gehen sehr oft als Team oder auch persönlich über ihre Grenzen. Es ist schwierig, die „professionelle Distanz“ zu wahren
Gibt es Schulungen zu diesem Thema?
Der Dachverband HOSPIZ ÖSTERREICH arbeitet gerade in Zusammenarbeit mit engagierten Personen aus den Landesverbänden daran, ein umfassendes Fortbildungskonzept zu entwickeln, mit dem man Mitarbeiter:innen gut abholen und schulen kann. In Niederösterreich werden wir als Landesverband im Jahr 2025 erste Einführungsfortbildungen für Mitarbeitende der Behindertenhilfe anbieten. In Deutschland hat Barbara Hartmann1), mit dem Curriculum „Palliative Care für Fachkräfte in der Assistenz und Pflege von Menschen mit intellektueller, komplexer und/oder psychischer Beeinträchtigung“ schon viel geschaffen.
Aus- und Fortbildungen zu Palliative Care sind oft sehr Medizin- und Pflege-lastig. Soziale Betreuung hat ein anderes Setting. Hier geht es viel mehr um Selbstbestimmung, um individuelle, personenzentrierte Begleitung. In diesem Bereich könnte die Pflege von der Sozialbetreuung lernen – und umgekehrt könnte die Sozialbetreuung vieles von der Pflege lernen. Meiner Meinung nach müsste man das Wissen und die Haltungen viel mehr kombinieren, dass jeder vom anderen lernen kann.
Was braucht es noch?
Wo es noch sehr viel Nachholbedarf gibt, sind Angebote in Leichter Sprache für betroffene Personen. Wir reden schnell von leichter Sprache und aber im Alltag ist es für viele schwierig, die Verwendung Leichter Sprache konsequent durchzuziehen.
Außerdem habe ich beobachtet, dass es bei Mitarbeitenden der Behindertenhilfe oftmals kein Vorwissen über die spezialisierte Versorgung gibt, auf das man zurückgreifen könnte.
Von Vertreter:innen der spezialisierten Versorgung habe ich ebenso schon gehört, dass sie mit dem Setting in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen überfordert sind. Worauf muss ich als Professionist:in des mobilen Palliativteams in einer Einrichtung achten, was braucht ein Mensch mit Behinderung?
Gibt es für Mitarbeiter:innen eine spezielle Ausbildung in der Behindertenhilfe?
Der Großteil der Mitarbeiter:innen hat die Ausbildung zum Fachsozialbetreuer Behindertenbegleitung bzw. Behindertenarbeit absolviert. Diese Ausbildung ist gut, aber Palliative Care ist meist kein inhaltliches Thema. Das müsste im Curriculum der Ausbildungen stärker verankert werden.
Sie haben jetzt vieles geschildert, was ist aus Ihrer Arbeitserfahrung das Schwierigste im Umgang mit kranken oder sterbenden Menschen mit Behinderung?
Die Unsicherheit der Mitarbeiter:innen sowie der Umgang mit An- und Zugehörigen. Angehörige kommen oftmals mit dem Sterben und Tod des geliebten Menschen nicht zurecht. Handelt es sich bei dem Sterbenden um einen Bruder oder eine Schwester, werden sie auch mit ihrem eigenen Ende konfrontiert, da sie in ähnlichem Alter sind.
Häufig habe ich auch beobachtet, dass das Versterben von Menschen mit Behinderungen sehr schnell gehen kann. Schmerzen werden oftmals nicht gezeigt bzw. nicht in ihrem gesamten Ausmaß wahrgenommen. Oftmals kommt es noch zu einer Krankenhauseinweisung, wobei Pflegepersonen und Medizinier:innen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen wenig Erfahrung haben und aus Überforderung die betroffenen Personen rasch wieder nach Hause bzw. ins Wohnhaus schicken. Dann kommt es zum Ping-Pong Effekt, da die medizinische und pflegerische Betreuung im Wohnhaus nicht gewährleistet werden kann oder auch bei den Betreuer:innen Unsicherheit herrscht und dann die Person wieder ins Spital geschickt wird.
Es kann auch zu einer Überfürsorge kommen, wo eigentlich Ruhe gebraucht wird. „Wie kann ich jetzt diesem Menschen Gutes tun?“ Es sollte das Wissen vorhanden sein, dass es okay sein kann, wenn jemand nicht mehr isst, gut sein kann, wenn man nichts mehr tut, nur daneben sitzt und vielleicht die Hand hält. Die Sorge der Mitarbeiter:innen, das Beste machen zu wollen und rechtlich abgesichert zu sein, ist groß.
Menschen ohne Behinderung wissen oft, dass sie sterben werden und können sich darauf vorbereiten, mit ihren Angehörigen reden. Wie erleben Sie das bei Menschen mit Behinderungen?
Ganz unterschiedlich. Ich habe einen Klienten erlebt, dem war es ganz genau bewusst. Mit ihm haben wir noch eine Patientenverfügung gemacht.
Um Wünsche und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen zu erfassen und diese zu erkennen, sind Fachsozialbetreuer:innen die Professionisten. Die Themen Selbstbestimmung und Personenzentrierung sind Fachgebiete der Sozialbetreuung.
Schwierig ist die Interpretation, jeder interpretiert Wünsche anders. Da wäre der Vorsorgedialog perfekt, um Wünsche gemeinsam mit den Betroffenen und Angehörigen zu besprechen und immer wieder zu dokumentieren.
Wobei ich der Meinung bin, dass man nur Vorsorge-Tools einführen kann, wenn sich die Haltung und ein gemeinsames Verständnis etabliert hat. ‚Was heißt palliative Begleitung, was heißt Hospizkultur in unserem Team, wie wird diese Kultur in unserem Haus gelebt?‘ Das ist für mich eine Grundvoraussetzung, um auch eine gute Planung für die letzte Lebensphase professionell umsetzen zu können.
Der große Vorteil in Österreich sind die gesetzlichen Rahmenbedingungen. In der Behindertenhilfe besteht die Möglichkeit mit multiprofessionellen Teams vieles abdecken zu können. Vom gehobenen Dienst der Krankenpflege und von Ärzt:innen können pflegerische und ärztliche Delegationen ausgesprochen werden, und so können die Skills der betreuenden Personen vielseitig eingesetzt werden. Ich habe mit einem Team zusammengearbeitet, bestehend aus Fachsozialbetreuer:innen, die eine geringe Pflegeausbildung hatten, und wir haben mit Unterstützung des Hausarztes und des Mobilen Palliativteams die palliative Versorgung einer Klientin zuwege gebracht, sodass sie zu Hause versterben konnte.
Gibt es etwas, das Sie sich für diesen Bereich wünschen?
Ich würde mir wünschen, dass die Möglichkeiten genutzt werden, die die Gesetze bieten, in einem multiprofessionellen Setting arbeiten zu können, und, dass man sich in der Behindertenhilfe der Rahmenbedingungen bewusst wird, die man hat. Mit multiprofessionellen Teams und Unterstützung von Expert:innen kann eine gute palliative Begleitung für Kundinnen und Kunden, Klientinnen und Klienten umgesetzt werden. Beginnend bei der Hospizkultur in den Teams. Menschen mit Behinderungen werden immer älter. Es gibt viele Einrichtungen, die sehr hochbetagte Menschen mit Behinderungen betreuen. Lange bevor der erste Klient in die terminale Phase kommt, sollte Hospizkultur im Haus gelebt werden, um gut palliativ begleiten zu können.
Vieles bringen Fachsozialbetreuer:innen mit, was in der Pflege erst erarbeitet werden muss.
In der Pflege wird oftmals an medizinische Themen gedacht: Reanimation ja/nein, PEG-Sonde ja/nein. Im Sozialbereich liegt der Fokus auf den Wünschen und Bedürfnissen. Wenn in der Behindertenhilfe die multiprofessionelle Zusammenarbeit mehr forciert werden würde, dann glaube ich, hätte man gute Voraussetzungen, Menschen wirklich individuell, professionell und palliativ mit der notwendigen Hospizkultur begleiten zu können.
Parallel dazu sollten Vertreter:innen der spezialisierten Versorgung für den Bereich Menschen mit Behinderung geschult werden, damit auch Professionist:innen der Mobilen Palliativteams oder Ehrenamtliche, aber auch Mediziner:innen und Pflegende Sicherheit erlangen, diese Menschen adäquat zu begleiten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Catrin Neumüller, Leitung Öffentlichkeitsarbeit, HOSPIZ ÖSTERREICH
Petra Haller, MSc.,
DGKP,13 Jahre Lebenshilfe Niederösterreich, seit 2024 Fachbereichsleitung Hospiz und Palliativversorgung in der allg. Gesundheits- und Sozialversorgung, Landesverband Hospiz Niederösterreich, Projektleitung HPCPH & MiB (Menschen mit Behinderung)