Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Volles Leben bis zuletzt!

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Übergangszeiten, wie zum Beispiel der Jahreswechsel, laden dazu ein, innezuhalten und zu reflektieren. Neujahrsvorsätze werden beschlossen, etwa, ein persönliches Ziel zu erreichen, aktiver zu sein oder etwas zu unternehmen, um die persönliche Lebensqualität zu verbessern.

Auch eine palliative Diagnose bedeutet wesentliche Veränderung. Patient:innen und ihre An- und Zugehörigen beginnen sich darauf zu konzentrieren, was ihnen besonders wichtig ist, wie die Tage mit Sinn und Bedeutung erfüllt werden können.

Zwischen den Jahren 2023 und 2024 entstand dieses Interview mit Rebecca Tiberini.
Sie ist Physiotherapeutin, war im St. Christopher’s Hospice und St. Joseph’s Hospice in London tätig, leitete diverse Abteilungen in Hospiz- und Palliativeinrichtungen, war in einem südenglischen Hospiz für die strategische Ausrichtung verantwortlich und ist heute Beraterin, Dozentin und Coachin. Sie leitet die EAPC-Task Force Rehabilitation in Palliative Care (https://eapcnet.eu/eapc-groups/task-forces/)

Von der Symptomkontrolle hin zur Funktionsverbesserung

In der Begleitung von Patient:innen steht oft die Symptomkontrolle im Fokus. Aber ist dieser Fokus ausreichend, um die Lebensqualität der Patient:innen und ihrer An- und Zugehörigen zu verbessern? Rebecca Tiberini hält Symptombehandlung und -kontrolle zwar für einen wichtigen Aspekt der Palliativversorgung, aber: „Um die Lebensqualität von Menschen mit lebensbegrenzenden Erkrankungen wirklich zu verbessern, müssen wir herausfinden, was für jede einzelne Person wirklich von Bedeutung ist und welche Aktivitäten für diese Person wertvoll sind. Wir müssen mit den Patient:innen partnerschaftlich für sie wichtige Ziele entwickeln und sie dabei unterstützen, diese zu erreichen und dabei vorhandene Potenziale vollständig auszuschöpfen – das macht einen deutlichen Unterschied im Leben – bis zuletzt. Solche Aktivitäten könnten ein Ausflug in die Berge sein, um dort frische Luft zu atmen, das Alpenglühen zu erleben und ein letztes Mal zu sehen, wie sich der Himmel beim Sonnenuntergang in ein wundervolles Rosa verfärbt. Es kann auch ein gemeinsames Getränk sein, im Garten des Hospizes, wenn Kinder und Enkelkinder zu Besuch kommen, oder das selbstständige Duschen, das warme Wasser auf der Haut zu spüren und dabei ein Gefühl von Würde zu erleben. Es ist immer individuell und einzigartig, was für eine Person von wirklich wichtig ist.
Unsere Persönlichkeit und unser Menschsein, also genau der oder die zu sein, der/die man ist, sind das Ergebnis unserer einzigartigen sowie veränderlichen Eigenschaften, die sich auch im Kontakt mit anderen entwickeln (Radha Krishna et al. 2014). Das Gefühl des Menschseins wird in gesunden Zeiten oft als selbstverständlich empfunden. Es wird allerdings erschüttert, wenn wir mit einer fortschreitenden Erkrankung konfrontiert sind, unsere Identität und unser Wohlbefinden durch körperliche Einschränkungen und Abhängigkeit leidet und der Betreuungsbedarf steigt.
Wir wissen wir, dass Menschen mit fortgeschrittenen Erkrankungen sich auf das besinnen, was ihnen wirklich wichtig ist. Rebecca nennt in diesem Kontext zwei Studien: Sandsdalen et al. (2015) haben systematisch die Prioritäten von Palliativpatient:innen untersucht. Dazu gehören: das Gefühl, „man selbst zu sein“, angenehme Aktivitäten sowie bedeutende Beziehungen und Hoffnung für die Zukunft aufrechtzuerhalten. Ähnliches ergab eine jüngst veröffentlichte Studie von Brose et al. (2023), die zeigte, dass Menschen im erwerbsfähigen Alter mit fortgeschrittener Krebserkrankung weiterhin die Priorität hatten, ihr Alltagsleben selbst zu gestalten. Diese Studie zeigte jedoch auch, dass das diesen Menschen nicht immer ermöglicht wurde, was ihre Lebensqualität empfindlich beeinträchtigte.

Ich frage Rebecca, was wir tun können, um Menschen, die wir begleiten, jede erdenkliche Möglichkeit zu bieten, voll und ganz am Alltagsleben teilhaben zu können. Ihre Antwort beschreibt das Konzept der Rehabilitativen Palliative Care. Dieser Ansatz integriert die Prinzipien der Rehabilitation, also Ermöglichung, Selbstversorgung und Selbstmanagement, in das ganzheitliche Handlungsfeld der Palliative Care. Dazu gehört auch das Vereinbaren individueller und personenzentrierter Ziele, und dabei herauszufinden, was diesem Menschen für sein Menschsein besonders wichtig ist. Diese Ziele werden dann zum gemeinsamen Fokus des interdisziplinären Teams (Tiberini and Richardson 2015).

Was ist das Besondere an diesem Ansatz? „Ein sehr wichtiges Element der Rehabilitativen Palliative Care ist der Fokus auf die Funktionsfähigkeit jenseits der Symptome. Dies bedeutet, dass Symptomlinderung im Kontext der funktionellen Fähigkeiten und der persönlichen Ziele stattfinden muss“. Ich bitte sie, das anhand eines Beispiels zu erklären, und sie erzählt von einem Patienten, Peter K., der eine fortgeschrittene Herzerkrankung und sehr starke Dyspnoe (Atemnot) hat. Um ihn bestmöglich zu unterstützen, ist es wichtig zu wissen, wobei ihn die Dyspnoe in seinem Alltag am meisten einschränkt und welche Aktivitäten dieses Symptom behindert. Ziel von Peter K. war es, nachts selbstständig auf die Toilette gehen zu können, um seine Frau nicht zu wecken. Deswegen war entscheidend, seine Atemnot nicht nur im Ruhezustand, sondern auch in Bewegung zu untersuchen und zu behandeln.
Erst wenn wir gelernt haben, Symptome im Kontext der Funktionsfähigkeit UND der persönlichen Ziele der Betroffenen zu betrachten, können wir die Lebensqualität aller involvierten Personen entscheidend verbessern.“.

In Settings, in denen krankheitsbedingte Defizite und das Sterben sehr sichtbar sind, ist es unter Umständen nicht einfach, auch die vorhandenen körperlichen Potenziale von Patient:innen wahrzunehmen. Rebecca stimmt zu: „Ja, oft wird die Verschlechterung der Funktionsfähigkeit als Kennzeichen der fortschreitenden Erkrankung verstanden. Es mag daher überraschend sein, dass ein Erhalt und sogar eine Verbesserung der Funktionsfähigkeit für viele Palliativpatient:innen möglich ist. Die wissenschaftliche Literatur bestätigt zunehmend, dass palliative Rehabilitationsangebote sowohl möglich wie gewollt und effektiv sind, um die Lebensqualität zu verbessern“. Auch die WHO hat aufgrund dieser starken Evidenzlage reagiert und beschreibt die Integration von Rehabilitation in die Palliative Care als best-practice-Modell (WHO 2023).

Welche Grundvoraussetzungen sind nötig, damit Rehabilitation in der Palliative Care umgesetzt werden kann? „Es braucht eine Kulturveränderung: Eine Kultur der Befähigung von Patient:innen ist sehr wichtig.“ Das bedeutet herauszufinden, wozu eine Person in der Lage ist, was sie selbst machen will, und sie dazu zu befähigen, diese Selbstständigkeit so lange wie möglich aufrechtzuerhalten. Sie erzählt von einer weiteren Patientin, Karin S., einer 78jährigen gebrechlichen Dame mit einer fortgeschrittenen und metastasierten Brustkrebserkrankung, die in einer Palliativeinrichtung zur Symptomkontrolle und zur Erholung aufgenommen wird. Zu Hause hatte sie zwar starke Schmerzen, konnte dennoch selbstständig Duschen und sich an- und auskleiden. Das ist ihr sehr wichtig und stärkt ihr Würdeerleben. Als sie aufgenommen wird, ist ihr erklärtes Ziel, künftig wieder möglichst selbstständig in ihrer eigenen Wohnung leben zu können. „Manchmal scheint es die Tendenz zur ‚Überversorgung‘ in Hospiz- und Palliativeinrichtungen zu geben, indem den Patient:innen auch Aufgaben abgenommen werden, die sie noch selbst erledigen könnten.“ Für die beschriebene Patientin, Karin S., ist es ganz entscheidend, ihre Fähigkeiten zu erhalten, – nicht nur für Ihre Identität, sondern weil sie diese funktionellen Ressourcen später zu Hause unbedingt braucht. Daher erhöhen Empfehlungen wie, sich im Bett, am bestem im Pyjama, zu erholen, dort auch die Mahlzeiten einzunehmen und gewaschen zu werden, das Risiko des Verlusts der Selbstständigkeit und des Selbstvertrauens stark und können leider auch ihrem Ziel, wieder nach Hause zu gehen, entgegenwirken. Rebecca ist überzeugt, dass eine der wichtigsten rehabilitativen Unterstützungen für palliativ erkrankte Menschen darin besteht, dass sie Aufgaben des täglichen Lebens selbst erledigen, an Alltagsaktivitäten teilnehmen können und jeden Tag nach Möglichkeit ein klein wenig mehr machen. So wird ihr vorhandenes Potenzial für sie selbst und andere sicht- und spürbar.

Hier die wichtigsten Tipps von Rebecca, damit Patient:innen so selbstständig wie möglich und unter Nutzung all ihrer Potenziale bis zuletzt leben können:

  1. Immer danach fragen, was für die Betroffenen wirklich wichtig ist und welche Ziele sie haben. Auf diese Ziele soll das Team fokussieren.
  2. Wichtig ist, die funktionellen Fähigkeiten der Patient:innen zu untersuchen, zu fragen, ob sie Probleme beim Gehen oder anderen Aktivitäten haben und zu beobachten, wie sie sich bewegen, um proaktiv möglichen negativen Entwicklungen entgegenzusteuern.
  3. Frühzeitige Zuweisung zur Physiotherapie oder Ergotherapie mit dem Ziel der Rehabilitation. Und zwar bereits, wenn eine Person erwähnt oder Sie sehen, dass sie beim Gehen unsicher ist, – und nicht erst dann, wenn sie schon sehr unsicher oder gar gestürzt ist.
  4. Gute Symptombehandlung unter Berücksichtigung der Ziele und Funktionsfähigkeit der Betroffenen.
  5. Um Überversorgung zu vermeiden, fragen Sie die Patient:innen immer, bevor Sie ihnen helfen, ob sie Aktivitäten selbst durchführen können bzw. ob sie Hilfe möchten.
  6. Ermutigen Sie Menschen trotz ihrer Erkrankung dazu, so aktiv wie möglich zu sein und ihre täglichen Routinen, wie aufstehen, Körperpflege, anziehen oder essen am Tisch, beizubehalten und aktiv durchzuführen. Das gilt zu Hause genauso, wie in stationären Einrichtungen.
  7. Wenn sich die Funktionsfähigkeit oder der Gesundheitszustand einer Person verschlechtern, sollte überlegt werden, wie dennoch die Teilhabe an für sie bedeutenden Aktivitäten ermöglicht werden kann, zum Beispiel im Rollstuhl.
  8. Denken Sie stets daran, dass jedes Mitglied des interdisziplinären Teams eine wichtige Rolle dabei hat, die Funktionsfähigkeit der Patient:innen möglichst lange zu erhalten und die Erreichung ihrer persönlichen Ziele zu ermöglichen.

Das Interview führte Rainer Simader, Leiter Bildungswesen HOSPIZ ÖSTERREICH


INFO-BOX
6 relevante Gründe, warum ein rehabilitativer Ansatz in der Hospiz- und Palliativversorgung sinnvoll ist.

Gut für die Patient:innen: Sie werden darin unterstützt, so unabhängig wie möglich zu sein und all das zu tun, was ihnen sehr wichtig ist – und das bis zuletzt.

Gut für An- und Zugehörige: Sie werden erleben, dass die Person, um die Sie sich sorgen, für sie wichtige Ziele erreicht und ein erfülltes Leben führen kann, bevor sie stirbt. Das schafft positive(re) Erinnerungen an die letzte Zeit und unterstützt den Trauerprozess.

Gut für den eigenen professionellen Praxisbezug: Ihr professioneller Ansatz ist dadurch ganz personenzentriert. Gemeinsam mit der erkranken Person finden Sie heraus, was für diese wirklich von Bedeutung ist, verfolgen dahingehend Ziele und setzen Prioritäten.

Gut für das interdisziplinäre Team: Das Team wird enger zusammenarbeiten, geeint in dem Fokus, dass jede:r Patient:in die individuell formulierten Ziele erreicht.

Gut für Hospiz- und Palliativeinrichtungen und Krankenhäuser: Durch die demografische Entwicklung in Österreich steigen die Nachfrage nach Hospiz- und Palliativversorgung und der Druck auf entsprechende Angebote, den Bedarf zu erfüllen. Der Ansatz der Rehabilitativen Palliative Care ermöglicht den Betroffenen, so lang wie möglich so unabhängig wie möglich zu bleiben. Das hilft palliativ erkrankten Menschen zu Hause zu bleiben, früher wieder aus stationären Einrichtungen nach Hause entlassen zu werden und schafft Raum für jene Patient:innen, die stationäre Einrichtungen brauchen.

Gut für das Budget: Im letzten Lebensjahr sind die Kosten für Krankenhausaufenthalte und Pflege am höchsten. Je funktionell unabhängiger Menschen sind, desto weniger Pflege und Betreuung benötigen sie. Geringere Gesundheits- und Sozialleistungen verursachen weniger Kosten. Rehabilitative Palliative Care ist ein strategischer Ansatz, der dazu beiträgt, den zunehmenden Bedarf an Hospiz- und Palliativversorgung zu decken und zugleich die Kosten für die Pflege und Betreuung zu senken (Tiberini et al. 2018).


Literatur
  1. Radha Krishna L, Yong C, Koh S. The role of palliative rehabilitation in the preservation of personhood at the end of life. BMJ case reports, 2014; 09
  2. Sandsdalen T, Hov R, Høye S, Rystedt I, Wilde-Larsson B. Patients’ preferences in palliative care: A systematic mixed studies review. Palliative Medicine 2015; 29(5)
  3. Brose JM, Willis E, Morgan DD. The intentional pursuit of everyday life while dying: A longitudinal qualitative study of working-aged adults living with advanced cancer.Palliative Medicine. 2023;37(8):1210-1221. doi:1177/02692163231180911
  4. Tiberini R. and Richardson H. Rehabilitative Palliative Care: Enabling people to live fully until they die. A Challenge for the 21st Hospice UK. 2015. ISBN: 978-1-871978-91-9
  5. Policy brief on integrating rehabilitation into palliative care services. Copenhagen: WHO Regional Office for Europe; 2023. Licence: CC BY-NC-SA 3.0 IGO
  6. Tiberini, R., Turner, K., Talbot-Rice, H. (2018). Rehabilitation in Palliative Care. In: MacLeod, R., Van den Block, L. (eds) Textbook of Palliative Care. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-31738-0_34-1
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