Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Selbstbestimmung bis zum Schluss

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Helene, 78a, Übergang beginnende zu mittelgradiger Demenz

Bei unserem ersten Telefonat meinte Helene, dass es ihr sehr wichtig ist, sich mit mir an einem neutralen Ort zu treffen. „Ich möchte in kein Tageszentrum oder Pflegeheim kommen“, sagte sie damals.

In vielen Erstberatungen mit Menschen mit Demenz und deren An- und Zugehörigen fallen Sätze wie: „Nein, nein, ein Tageszentrum ist noch nichts für mich. So weit bin ich noch nicht“ oder „Was passiert denn dort schon? Da werden „die“ ja nur aufbewahrt… Dort sind doch nur Menschen, denen es schon ganz schlecht geht.“ Dahinter steckt häufig die Angst vor dem Ungewissen, die Sorge davor, „abgeschoben“ zu werden, keinen Wert mehr zu haben. In der Begleitung passen mein Team und ich uns an die Bedürfnisse der Menschen an. Jeder Mensch hat ein anderes Tempo im Umgang mit herausfordernden Situationen. Wir gehen in dem jeweiligen Tempo mit. Auf die Erstberatung folgt ein erster, kurzer Kennenlern-Besuch im Tageszentrum. Anschließend werden Schnuppervormittage vereinbart. Das Erleben des Tageszentrums mit den Tagesgästen, dem Team, den Aktivitäten, der Gruppendynamik reduziert die anfänglichen Ängste der Betroffenen und macht es so möglich, es als Ort der Gemeinschaft zu erfahren.

Helene und ich treffen einander immer im gleichen Café, immer am gleichen Tisch. Bei unserem ersten Treffen war Helene sehr nervös, sie hat von ihrer „frischen“ Demenzdiagnose berichtet, davon, dass sie sich aber nicht geschlagen geben möchte. Eine ihrer brennendsten Fragen war: „Kannst Du mir sagen, wie lange es dauern wird?“ ‚Es‘ ist das Gespenst der Demenz, das ab der Diagnosestellung immer präsent ist. An manchen Tagen – Helene nennt diese Tage „meine guten, normalen Tage“ – hält es sich im Hintergrund. An den schlechten, grauen Tagen ist das Gespenst real und macht ihr sehr viel Angst.

Herbst 2023
Im Sommer haben Helene und ich uns nur wenig gesehen. Bei unserem ersten Treffen im Herbst ist in unserem Gespräch erstmals das Thema Sterben sehr präsent.

„Wie schnell wird es gehen?“, fragt mich Helene und blickt mich an. „Ich hoffe, dass es nicht schnell geht. Ich frage mich manchmal, wer als erster gehen wird. Mein Mann oder ich? Und wie machen wir das dann?“ „Wie meinst Du das?“, frage ich nach. „Naja, körperlich ist ja mein Mann derjenige von uns beiden, der schlechter beieinander ist. Ich frag‘ mich schon, wie er das alles machen wird, wenn ich vor ihm sterbe. Und das ist ja nun nicht ganz unwahrscheinlich, …. dass ich vor ihm sterbe.“

„Habt ihr beide schon einmal darüber gesprochen, wie es später einmal sein soll? Also, wer Euch unterstützen wird, ob derjenige, der ‚übrigbleibt‘ zu Hause bleiben oder ins Pflegeheim wechseln will oder so?“
„Das sollten wir tun, aber wir haben noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden. Unsere Kinder finden auch, dass das wichtig ist. Wenn ich länger leben sollte, dann will ich ins Pflegeheim. Ich möchte nicht ohne meinen Mann zu Hause bleiben. Ich glaube, er sieht das auch so. Wahrscheinlich hast Du recht, wir sollten das besprechen.“

Einer der beiden Söhne unterstützt Helenes Mann bei bürokratischen Angelegenheiten, wie bei der Beantragung des Pflegegelds. Er pocht sehr darauf, dass sie als Familie gemeinsam, über Vorsorge sprechen. Helene wollte das lange nicht. Mittlerweile hat es erste Gespräche in der Familie gegeben.

Winter 2023
Es ist Ende November. Die „stillste“ Zeit des Jahres beginnt.

„Heute geht es mir nicht gut“, sagt Helene, als sie sich setzt. „Ich hatte so viele Termine. Das strengt mich sehr an. Das kann ich nicht mehr, weißt Du. Ich bin so müde.“ Sie streicht sich eine Strähne aus der Stirn. „Du siehst erschöpft aus“, sage ich. „Ich bin heute sehr früh aufgestanden, ich musste alles herrichten. Und Notizen machen. Ich muss alles aufschreiben, ich vergesse so viel. Meinem Mann hab‘ ich gesagt, er soll doch bitte etwas einkaufen gehen. Ich weiß aber nicht, ob ich ihm aufgeschrieben habe, was wir brauchen. Heute ist es nicht gut.“ Sie blickt mich an: „Ich hatte eine Frage an Dich, aber ich habe sie vergessen. Das passiert mir jetzt auch oft. Das ist nicht gut, das Vergessen.“
„Was hilft Dir?“, möchte ich von Helene wissen.
„Zettel und mein Kalender, den hab‘ ich immer dabei, wenn ich ihn nicht vergesse… Jetzt weiß ich wieder, was ich wissen wollte! Weißt Du, wie schnell mein Vergessen gehen wird? Ich habe in der Nacht über unser Grab nachgedacht, deswegen bin ich auch so früh aufgewacht. Die Gedanken kreisen. Es ist nicht so einfach, ich möchte gerne bei meiner Familie sein, aber mein Mann will, dass wir bei seiner Familie liegen. Darüber können wir nicht gut reden, wir streiten dann immer. Für mich ist das aber ganz klar, weißt Du. Ich hoffe, dass ich nicht vor meinem Mann sterbe, denn dann kann ich das für mich entscheiden. Darf man das überhaupt so sagen?“

Jänner 2024
Die Kontrolle bei Helenes Neurologen hat eine Verschlechterung der Demenz ergeben. Kurz nach dem Arztbesuch treffen wir einander wieder in unserem Kaffeehaus.

„Die Dosis des Medikaments, das ich nehmen muss, ist jetzt erhöht worden. Und ich soll mir ein Hörgerät besorgen. Aber ich höre gut, finde ich. Ich habe außerdem eh eines, aber das ist so klein. Ich versuche es manchmal, also das Hörgerät ins Ohr zu geben, aber das klappt nicht so gut. Das ärgert mich. Eines der beiden finde ich auch nicht mehr. Das ist sicher auch ein Zeichen meiner Vergesslichkeit.“ Meinen Einwand, dass so etwas auch Menschen ohne Vergesslichkeit bzw. Demenz passieren kann, wiegelt sie ab: „Nein, nein. Nicht so.“
„Fühlt es sich anders an als das ‚normale‘ Vergessen?“, möchte ich wissen.
„Ja“, sagt Helene, „es ist wie ein Nebel, der immer dichter und schwerer wird. Mit meinem Mann spreche ich manchmal darüber, das macht ihn und mich traurig.“

Helenes Mann begleitet sie zu allen Arztbesuchen, oft ist auch der zweite Sohn dabei. Eigentlich hat er sich das Altwerden anders vorgestellt, erzählt Helenes Mann. Nicht immer kann er verstehen, was mit ihr passiert. Dann wird er manchmal wütend und schimpft mit ihr. „Danach schäme ich mich, weil ich ja weiß, dass sie nichts dafürkann“, sagt er.  Seit Anfang des Jahres geht er zu einer Angehörigengruppe. „Es tut mir gut, wenn ich von anderen höre, dass es ihnen so geht, wie mir. Wir haben auch eine WhatsApp Gruppe und machen uns immer wieder gegenseitig Mut.“ Sein Ziel ist, so sagt er, Helene entsprechend ihren Wünschen durch ihre Krankheit zu begleiten.

Februar 2024
Helene kommt nicht zu unserem Gespräch. Ich warte im Café und als sie nicht kommt, rufe ich sie an. „Wir hatten heute einen Termin?“, fragt sie entsetzt. „Das habe ich nicht gewusst, in meinem Kalender steht das nicht. Warte, ich zieh‘ mich an und komme gleich“. Etwa eine halbe Stunde später ist Helene da. Zum ersten Mal ungeschminkt. Ihre Bewegungen sind fahrig, sie wirkt müde. Unser Treffen dauert kürzer als sonst. Nachdem Helene ihren Apfelsaft getrunken hat, möchte sie gehen. Wir gehen ein Stück gemeinsam, bei der Verabschiedung sagt sie: „Auf Wiedersehen.“

Das Erleben von Ermutigung, Austausch, Entlastung und der eigenen Wirksamkeit als Person sind zentral, um Menschen mit einer Demenzdiagnose zu stärken und den Verlauf der Erkrankung zu verzögern. Wichtige Begleitmaßnahmen für Menschen mit Demenz sind deshalb: frühe Hilfe, Begleitung bei und nach Diagnosestellung, Unterstützte Selbsthilfe, ehrenamtliche Demenz(weg)begleitung und Freizeitbuddies in weiterer Folge können Tageszentren, Wohngemeinschaften und Betreutes Wohnen Struktur, Orientierung und Halt geben, ermöglichen Gemeinschaft, Gesellschaft und das Erleben der eigenen Person in einem sozialen Gefüge.

www.promenz.at

www.alzheimer-selbsthilfe.at

Gut Leben mit Demenz – https://www.demenzstrategie.at/

Aber auch die (pflegenden)An- und Zugehörigen benötigen Entlastung, Unterstützung und Austausch. Die Interessensgemeinschaft Pflegende Angehörige („IG-Pflege“) ist Netzwerk, Unterstützung und politisch aktiv für pflegende An- und Zugehörige.

www.ig-pflege.at

Pflegende Angehörige bundesweit

https://www.demenzstrategie.at/

Die Gespräche führte Marianne Buchegger, Leiterin eines Tageszentrums für Menschen mit Demenz der CS Caritas Socialis GmbH

Bildquelle: pexels