Der Bereich, in dem wir tätig sind, der Grenzbereich von Leben und Tod, ist in vielerlei Weise herausfordernd und komplex. Wir begegnen darin verschiedenen Widersprüchen, mit denen es umzugehen gilt. Da ist z. B. der Widerspruch zwischen Gesundheit und Krankheit, zwischen noch Zeit brauchen und keine Zeit mehr haben und anderes mehr. Der größte und faktisch unauflösliche Widerspruch ist der zwischen Leben und Tod.
Vielfach sind es keine einfachen Situationen, in die wir als Begleitende gestellt sind. Daher lautet eine Frage, die wir alle gut kennen: wie kannst du das nur aushalten? Und eine landläufige Antwort darauf heißt: man muss eben professionell sein, eine professionelle Distanz halten, man kann ja nicht mit jedem „mitsterben“.
Schon immer hat mich dieser Begriff gestört – als Pflegende und Begleitende will ich nicht distanziert bleiben müssen, um professionell zu sein. Vielmehr habe ich mich gefragt, wie Nähe „professionell“ sein kann. Denn wo wären Menschen mehr auf Nähe, auf (Mit-)Menschlichkeit, auf Solidarität, Freundschaft, auf Gastfreundschaft angewiesen als in einer Phase des Lebens, die wir alle nicht aus eigener Erfahrung kennen. Wir bewegen uns in der Hospiz- und Palliativversorgung also in einem Kontext, in dem das Professionelle und das Existenzielle ineinander verwoben sind. Wir kommen manchmal mehr in Kontakt, als wir vielleicht wollen, werden berührt von der existenziellen Not, von der Einsamkeit, der Trauer, vom Schmerz des Sterbens. Wie also dabei „professionell“ sein? Die Mitteilungen des sterbenden Menschen, ob verbal oder nonverbal, richten sich plötzlich nicht mehr an unsere Rolle und Funktion, sondern wir sind gemeint als Menschen, als Mitmenschen. Ich bin daher überzeugt davon, dass nicht Nähe, sondern Distanz zu Sterbenden unprofessionell ist. Hospizarbeit ist immer Beziehungsarbeit, und zwar in alle Richtungen, in besonderer Weise aber zu den sterbenden Menschen und den ihnen Nahestehenden. Es gibt selten Begegnungen, die so „pur“ sind, so unverstellt, in denen vieles so egal wird, was zuvor wichtig erschien.
Warum also sollten wir Distanz halten, denn „sie sterben nur einmal für uns, unsere Lehrmeisterinnen und Lehrmeister“, schreibt Hilde Domin.
Die Professionalität in der Nähe besteht meines Erachtens darin, mich ganz bewusst nicht nur in den äußeren, sondern auch in den inneren Kontakt zu begeben, mich zu riskieren, mich zu zeigen auch als Mensch und dabei immer auch zu wissen, ich bin nicht die Einzige, nicht die Wichtigste, nicht die Nahestehendste – wenn ich nicht da bin, ist jemand anderes da, der oder die genauso gut Sorge trägt.
Professionell nahe sein heißt auch, ich mache die Menschen nicht emotional von mir abhängig, ich tue das alles nicht, um mich selbst gut zu fühlen oder um später beeindruckende Geschichten erzählen zu können – ich weiß stets um meine Motive. Ich stelle mich dem Thema, der Situation, den Personen – UND ich bin ersetzbar, es geht auch ohne mich, und daher kann ich getrost sein, wenn ich im Freien bin oder im Urlaub oder Feierabend habe.
Vielleicht oder wahrscheinlich bin ich traurig, wenn ein Mensch verstorben ist oder ich die Trauer der Hinterbliebenen spüre. Vielleicht nehme ich manchmal einen Menschen im Geiste mit nach Hause, doch eben, ich weiß, er ist gut versorgt, und ich kann einfach freundlich-wohlwollend an ihn denken, vielleicht eine Kerze für ihn anzünden.
Es kommt also auf mich an, aber es kommt nicht nur auf mich an. Nähe und Professionalität sind somit kein Widerspruch, sondern gehören gerade in der Hospiz- und Palliativarbeit zutiefst zusammen.
Susanne Kränzle, MAS Palliative Care, Pflegefachkraft, Hospiz- und Palliativfachkraft, Gesamtleitung Hospiz Esslingen, Vorsitzende des Hospiz- und PalliativVerband Baden-Württemberg e. V.
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