Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Palliative Care und Intensivstation im Spannungsfeld

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„Emergency Room“, Stress, Chaos – im ersten Moment denkt man bei Intensivpflege nicht automatisch an Palliative Care.

Der Unterschied zwischen Palliative Care und Intensive Care könnte auf den ersten Blick nicht größer sein. Bei genauerer Betrachtung gibt es jedoch mehr Gemeinsamkeiten als gedacht.

Der primäre Grund für eine Aufnahme auf einer Intensivstation ist meist die Behandlung eines kritischen Krankheitszustandes oder eines Notfalles mit Hilfe aller zur Verfügung stehenden medizinischen Mittel. Im Laufe der Behandlung kann sich jedoch herausstellen, dass die akuten oder chronischen Krankheitsprozesse weit fortgeschritten sind, so dass ein kurativer Therapieansatz unrealistisch wird. Wenn keine Chance auf Heilung besteht, ist es die Aufgabe des Behandlungsteams, Leiden zu lindern. Erst in dieser Phase wechselt die Behandlungsstrategie klar von kurativ auf palliativ.

Das Nehmen der Ängste und die Symptomkontrolle ist dann ein besonders wichtiger Teil unsere Arbeit auf der Intensivstation. Bei einer Änderung des Therapiezieles haben die Patient*innen und ihre Angehörigen wenig Zeit sich auf die neue Situation einzustellen. Das Realisieren einer palliativen Situation braucht allerdings Zeit.

Es bedarf trotz der allgemeinen Hektik im Tagesablauf der Intensivstation vieler Gespräche mit den Betroffenen und ihren An- und Zugehörigen. Diese Gespräche und das gleichzeitige Betreuen von „Palliativ- und Normalpatient*innen“ stellt das Team vor große Herausforderungen.

An Hand eines Beispiels kann verdeutlicht werden, wie wichtig Kommunikation mit den Betroffenen und ihren Angehörigen, aber auch im interprofessionellen Behandlungsteam ist. Die Einbindung einer Ethikberatung kann zusätzlich, wie folgendes Beispiel zeigt, hilfreich sein.

Herr U. wurde 10 Jahren lang nach einer Hirnblutung von seiner Gattin und seinen zwei Töchtern liebevoll gepflegt. Herr U. war 58 Jahre, hatte eine Halbseitenlähmung und eine Einschränkung bei der Kommunikation. Er konnte sich nur mit seiner Frau und seinen Töchtern gut verständigen. Als gesunder Mensch war er sehr gesellig, lebte aber seit der Hirnblutung zurückgezogen. Er vermied seit seiner Pflegebedürftigkeit soziale Kontakte. Auf der Intensivstation aufgenommen wurde Herr U. wegen einer entzündlichen Darmerkrankung. Er musste mehrere Operationen über sich ergehen lassen, da immer wieder Blutungen im Wundgebiet auftraten. Die vielen Eingriffe zehrten an den Kräften von Herrn U.  Nach drei Wochen vergeblicher Versuche, die Erkrankung zu kurieren, teilte uns seine Gattin mit, dass ihr Mann unter diesen Bedingungen nicht mehr weiterleben wolle. Wir sollten ihn in Ruhe sterben lassen.

Im Behandlungsteam wurde rege diskutiert, ob der kurative Behandlungsansatz weiter zu rechtfertigen wäre, denn körperlich schien sich Herr U. trotz der vielen Komplikationen immer wieder zu erholen. Der lange Krankheitsverlauf zehrte jedoch sehr an seinen Reserven.

Die Familie wünschte nichts sehnlicher, als dass er endlich von seinem Leiden erlöst werden würde. Herr U. hatte weder eine Patientenverfügung noch eine Vorsorgevollmacht.

Wir schlugen der Familie eine ethische Fallbesprechung vor, um dem Willen von Herrn U. mehr Gewicht zu verschaffen. Zum Zeitpunkt der geplanten Fallbesprechung konnte sich Herr U. aber nicht mehr selbst mitteilen.

Angehörige nehmen bei diesen Fallbesprechungen in der Regel nicht teil. Die Familienmitglieder wollten aber einen Beitrag zur Feststellung des mutmaßlichen Patientenwillens leisten. Wir ersuchten die Angehörigen, die Einstellung zum Leben und zum Sterben von ihrem Gatten/Vater schriftlich festzuhalten, die er im Laufe der letzten Jahre immer wieder geäußert hatte.

Bei der Moderation der Fallbesprechung wurden diese Schriftstücke stellvertretend für die Familie verlesen und dem Protokoll der Fallbesprechung beigefügt. Somit bekamen Herr U. und seine Familienmitglieder eine Stimme. Aufbauend auf diese Niederschriften konnte sich das klinische Ethikkomitee und das Behandlungsteam ein Bild von Herrn U. machen.

Diese Schriftstücke skizzierten den mutmaßlichen Patientenwillen glaubhaft. Dem wurde in der Empfehlung des klinischen Ethikkomitees Rechnung getragen. Im Falle weiterer Komplikationen sollten keine chirurgischen und intensivmedizinischen Interventionen mehr durchgeführt werden, sondern eine Komforttherapie am Lebensende.

Die Zugehörigen konnten durch flexible Besuchszeiten so die letzten Lebenstage beinahe ununterbrochen bei ihrem Mann/Vater verbringen. Herr U. verstarb friedlich im Beisein seiner Familie auf der Intensivstation. Die Angehörigen waren sehr dankbar, dass dem Willen des Patienten entsprochen wurde. Trotz aller Traurigkeit über den Verlust waren die Hinterbliebenen glücklich, ihr erkranktes Familienmitglied begleiten zu können.

Als Team unterstützen wir uns durch Schaffen von Zeitressourcen gegenseitig bei diesen speziellen Care -Tätigkeiten. Anders wäre Herrn U.s begleitetes Versterben nicht möglich gewesen.

Leider gelingt es nicht immer, die uns anvertrauten Patient*innen auf der Intensivstation so stimmig am Lebensende zu unterstützen.

Durch gelebte palliative Haltung und Palliative Care können nicht zuletzt auch die Angehörigen bei der Akzeptanz von Therapiezieländerungen unterstützt werden. Dadurch kann es für die Angehörigen möglich werden, den nahenden Tod anzunehmen. Gleichzeitig bietet Palliative Care, bzw. die palliative Haltung, die Chance, die Kommunikation im Team zu erweitern und mit auftretendem emotionalem Stress umzugehen.

Robert Weindl, DGKP
Stellvertretende Stationsleitung Intensivpflege
Landeskrankenhaus Bregenz

Foto: Copyright Robert Weindl