Hospiz- und Palliativeinrichtungen in Österreich

Nah am Unglück: Wie können wir trotz Empathie gesund bleiben?

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Liebe*r Leser*in!

Stellen Sie sich vor, Sie sind nicht in Ihrer Funktion, in der Sie üblicherweise schwer kranke und sterbende Menschen begleiten. Sondern…. Sie sind eine Gazelle in der afrikanischen Serengeti (der Autor dieses Blogbeitrags entschuldigt sich vorab aufrichtig für diesen Vergleich!). Friedlich grasen Sie inmitten Ihrer großen Herde. Der hungrige Gepard befindet sich allerdings in der Nähe. Eine Gazellenkollegin, die ganz weit entfernt von Ihnen aber in der Nähe des Gepards steht, bemerkt den Feind. Innerhalb von Sekunden flüchtet die gesamte Herde, also auch Sie selbst, obwohl Sie den Gepard doch gar nicht gesehen haben…

Nach diesem kurzen „Rollenspiel“ besteht die berechtigte Frage: Was hat das mit Empathie und der eigenen Gesundheit zu tun? Denn die Wahrscheinlichkeit, bei einem mobilen Einsatz im Waldviertel von einer Raubkatze gefressen zu werden, ist denkbar gering.

In diesem Beitrag wollen wir den Fragen nachgehen, was mit uns Helfer*innen passiert, wenn wir so nah und empathisch Situationen begleiten, die für andere Menschen gefährlich sind, und wir eigene Belastungsgrenzen erkennen.

Was ist Empathie eigentlich?

Unter Empathie versteht man Bereitschaft und Fähigkeit des einfühlenden Verstehens in eine andere Person. Wir wollen emotional fühlen und auch kognitiv verstehen, wie es dem Gegenüber geht. Was ebenfalls wichtig ist: wenn wir in die Erlebniswelt eines anderen Menschen eintauchen, so bringt das immer eigene Erinnerungen und Empfindungen in Resonanz. Automatisch scannt unser Gehirn, ob wir eine solche oder eine ähnliche Situation bereits einmal oder öfter erlebt haben, und Gefühle, die wir bereits einmal zu einem solchen Thema hatten, werden verglichen. Empathie bedeutet also einen stetigen Dialog zwischen eigenen und fremden Empfindungen.

Was passiert in uns, wenn wir empathisch sind?

Wie an vielen menschlichen Prozessen ist unser Nervensystem intensiv beteiligt.

Um empathisch sein zu können, brauchen wir Spiegelneuronen. Spiegelneuronen sind vor allem motorische Hirnnervenzellen, die besonders aktiv sind, wenn es um emotionale Situationen geht. „Motorische Zellen“ bedeutet, dass sie für Bewegung mitverantwortlich sind bzw. körperliche Reaktionen auslösen. Diese körperlichen Reaktionen werden ausgelöst, wenn besonders viele Gefühle im Spiel sind. Diese Reaktionen auf emotionale Situationen haben damit zu tun, dass Spiegelneuronen eine enge Verbindung zur Amygdala, dem Mandelkern in unserem Gehirn, haben. Diese Amygdala kann man sich als Festplatte im Gehirn für emotionale Erinnerungen vorstellen. Wann immer wir mit Emotionen konfrontiert werden, werden Gefühle und Erlebnisse in diesem Speicher abgelegt.

Jedes Säugetier, egal ob Gazelle oder Mensch, hat Spiegelneuronen. Solche körperlichen Reaktionen auf emotionale Situationen erleben wir im Alltag häufig und oft ganz automatisch.

Hier ein Beispiel aus der klinischen Praxis, das Sie vermutlich kennen:

Sie betreten ein Zimmer, in dem sich eine Patientin mit Atemnot befindet. Diese erkrankte Person hat die Schultern hochgezogen, sie atmet schnell und flach, im Gesicht der Patientin steht die Angst geschrieben, ihr gesamter Körper ist starr. Sie selbst waren beim Betreten des Raums noch ganz entspannt und ruhig, aber innerhalb eines Augenblicks steigen Ihr Blutdruck und Ihre Körperspannung, Ihre Pupillen weiten und Ihre Atmung beschleunigt sich. Ihr Körper reagiert also unmittelbar auf eine emotional bedrohliche Situation, meistens ohne zu wissen, was die konkrete Herausforderung ist. Genau wie bei der Gazelle zeigt sich hier dasselbe Muster: eine emotional erlebte Situation führt automatisch zu einer körperlichen Reaktion.

 Gefährliche Situationen in der Arbeit mit Menschen in Krisen, Leid und Trauer

Wir erleben viele Situationen, die unser Gehirn als potenziell „gefährlich“ wahrnimmt.

Wir hören Geschichten, die „es in sich haben“, wir sehen von der Krankheit gezeichnete Körper, wir nehmen mit Krankheit und Leid assoziierte Gerüche wahr oder wir berühren vulnerable Körper (und Berührung ist bekanntlich keine Einbahnstraße). Die uns anvertrauten Menschen bringen zahlreiche emotionale und körperliche Traumata mit, die dann auf uns und in uns wirken.

Wenn wir diese Situationen immer wieder erleben, reagiert auch unser Körper immer wieder entsprechend. Wenn als Reaktion auf die erlebte Bedrohung beispielsweise unser Blutdruck oder die Muskelspannung über einen langen Zeitraum leicht erhöht oder unsere Atmung oder der Herzschlag etwas verändert ist (unser Körper hat noch viele weitere Organe und Strukturen, die „reagieren“ können) wird es gefährlich. Wenn wir diese Veränderungen nicht ausgleichen, so werden wir zwar nicht gefressen, aber wir werden krank.

Wie können wir trotz Empathie gesund bleiben?

„Ich mach das schon so lange, das macht mir nichts mehr aus“, ist ein Satz, der nicht selten zu hören, aber brandgefährlich ist. Denn je öfter wir mit traumatischen Situationen konfrontiert werden, desto sensitiver reagiert unsere Amygdala und desto schneller und intensiver werden in uns diese körperlichen Reaktionen ausgelöst.

Doch in jedem Problem steckt auch die Lösung: Wir können auch empathisch mit uns selbst umgehen. Wir können hinfühlen, wahrnehmen und verstehen, was in diesen Situationen in uns und vor allem mit unserem Körper passiert. Wie reagiert mein Körper, wenn ich die Geschichte höre, als mein Patient die Diagnose erfuhr? Spanne ich mich an? Atme ich flach? Und erlaube ich mir in solchen Situationen, dass es meinem eigenen Körper gut gehen darf und er nicht durch das Trauma des anderen in Mitleidenschaft gezogen werden muss?

Unser Körper ist ein wunderbarer Supervisor

Abschließend eine Einladung zur Selbstreflexion, die Ihnen in belastenden Situationen helfen kann, das Richtige für sich zu tun. Wenn Sie möchten, können Sie diese Fragen für sich beantworten:

  • Kenne ich verlässliche Körpersignale, die immer dann auftreten, wenn ich dabei bin, meine Belastungsgrenzen zu überschreiten?
  • Wenn dieses Körpersignal Worte finden könnte: Was würde es mir sagen wollen?
  • Wie könnte ich dieses körperliche Missempfinden ausgleichen? Was bräuchte mein Körper in diesem Moment?
  • Wie lässt sich diese Erkenntnis in einer Behandlungs- oder Betreuungssituation praktisch umsetzen?

Rainer Simader, geb. 1974, ist Physiotherapeut, Tanz- und Ausdruckstherapeut, Autor und Herausgeber. Er leitet das Bildungswesen im Dachverband Hospiz Österreich, ist Mitglied des Leitungsteams des Universitätslehrgangs Palliative Care in Salzburg und Vorstandsmitglied der österreichischen Palliativgesellschaft. Seit 2021 ist er im Herausgeberteam des Leidfadens, des Fachmagazins für Krisen, Leid und Trauer.

Daniels, J. Sekundäre Traumatisierung. Psychotherapeut 53, 100–107 (2008).
O’Mahony S et al. (2015) Posttraumatic stress symptoms in palliative care professionals seeking mindfulness training: Prevalence and vulnerability. Palliative Medicine
Schönleiter Wolf (2021) „Wie geht’s mir eigentlich?“ – Einladung zur Selbstsupervision. In Nieland Peter und Simader Rainer (2021). Physiotherapie in der Palliative Care. Rehabilitation am Lebensende. München. Elsevier
 Bild: Pexels/Yogendra Singh