Wie wird es mir einmal gehen, wenn ich schwer erkrankt bin, wenn ich weiß, dass ich in absehbarer Zeit sterben werde? Was wäre mir wichtig?
Meine berufliche Reise hat mich zur Physiotherapie gebracht und in dieser Rolle unter anderem ins St. Christophers Hospice nach London, wo ich eineinhalb Jahre gearbeitet habe. Dort habe ich Patienten und Patientinnen begleiten dürfen, die mich auch an jene in Österreich erinnert haben. Menschen mit weit fortgeschrittenen Tumor- und Atemwegserkrankungen oder mit neurologischen Diagnosen. Auch viele hochbetagte Menschen suchten in dieser Hospiz- und Palliativeinrichtung Hilfe. Und vor allem auch Rat.
Das war es, was mir gleich von Beginn an aufgefallen ist – auch durch einen sanften Hinweis meiner Chefin, die mir sagte: Jedes Problem braucht eine Lösung, aber im besten Falle braucht jede Therapie auch ein Ende. Denn „unsere Patienten und Patientinnen haben am Lebensende sicher etwas Besseres zu tun, als von einem Therapietermin zum nächsten zu laufen.“
Mache den Patienten zum Experten seines Problems und der Lösungen
Das war die Devise, die ich spannend fand. Ich habe bislang kaum in einer Einrichtung gearbeitet, die so viel daran setzte, Betroffene, also die Erkrankten und die An- und Zugehörigen zu befähigen, um möglichst gut, selbstbestimmt und auch unabhängig (auch von den Profis) zurechtzukommen.
Den Spruch von Cicely Saunders, der Gründerin des St. Christopher’s Hospice, kannte ich schon vor meiner Zeit London:
„Die Arbeit des professionellen Teams ist es, dem Patienten Leben zu ermöglichen, bevor er stirbt.
So weit kennt den Spruch fast jede:r, die/der in der Hospiz- und Palliativversorgung tätig ist. Was nicht alle wissen, ist, dass der Spruch noch weiter geht:
… unter Berücksichtigung seines maximalen Potenzials, den Grenzen seiner körperlichen und psychischen Möglichkeiten und der Unabhängigkeit und Selbstkontrolle, wann immer auch möglich.“
Dort in London, erkannte ich, was es bedeutet, mit den Potenzialen und nicht primär an den Problemen der Menschen zu arbeiten. Als ich 2009 und 2010 dort mit Atemnot- und Fatigue-Gruppen für betroffene Familiensysteme arbeitete und Zirkeltrainingsgruppen für Palliativpatient:innen im „Rehabilitation Gym“ leitete (auch für jene, die nur noch wenige Wochen zu leben hatten), wurde mir klar, was das Wort „re-habilitare“ im eigentlichen Sinne bedeutet: nämlich „wieder befähigen“.
Im Jahr 2022 anlässlich der Fachtagung „Gemeinsam in die Zukunft“ von HOSPIZ ÖSTERREICH war für mich ein Stück „alte Heimat“ auf der Bühne. Heather Richardson, die damalige Geschäftsführerin des St. Christopher’s Hospice, selbst Pflegeperson und Professorin in Oxford, meinte – etwas pointiert –, dass sie im Hospice früher glaubten, dann einen guten Job gemacht zu haben, wenn die Patienten und Patientinnen in ihrer Einrichtung begleitet friedlich verstarben. Heute habe sich die Haltung geändert. Einen guten Job hätten sie heute dann gemacht, wenn die Betroffenen sie gar nicht (mehr) brauchen, weil sie selbst gut zurechtkommen.
Es geht nun um Early Integration mit einem starken Fokus auf Edukation und Befähigung in frühen Phasen. Dabei geht es nicht um schwarz/weiß bzw. entweder/oder. Es gibt viele Betroffene, die in späten Phasen viel Hilfe brauchen und erhalten.
Rehabilitation, also die (Wieder)Befähigung, wird hierzulande nicht zwangsläufig mit Palliative Care assoziiert. Die wissenschaftliche Literatur ist weiter. Es gibt eine offizielle Definition: Rehabilitative Palliative Care ist ein Ansatz, der Patienten und Patientinnen und deren An- und Zugehörige in eine aktive Rolle versetzt und auf deren Befähigung fokussiert. Rehabilitative Palliative Care ist ein Paradigma, das Rehabilitation, Befähigung, Selbstmanagement und Selbstversorgung in das ganzheitliche Modell der Palliative Care integriert (vgl. Tiberini & Richardson, 2015). Auch hier kein entweder/oder.
Vor kurzem hat auch die Weltgesundheitsorganisation diesbezüglich ein Zeichen gesetzt. Sie hat ein Dokument veröffentlicht, in dem sie die klare Empfehlung ausspricht, dass Rehabilitation in Palliative Care integriert werden soll. Im Policy Brief „On Integrating Rehabilitation into Palliative Care Services“ wird dies detailliert, auch mit Fallbeispielen, beschrieben.
Die Gründe dafür sind vielfältig. So lange wie möglich selbstständig, selbstbefähigt und von anderen unabhängig und/oder mit so wenig Hilfe wie möglich leben zu können, ist ein sehr häufig geäußertes Bedürfnis von schwer kranken und sterbenden Menschen.
Auch im Kontext der deutlich wachsenden Zahl an Patienten und Patientinnen, immer mehr chronisch progredienten Erkrankungen, einer zunehmend alternden Gesellschaft gepaart mit Pflegenotstand und Mangel an Medizinern und Medizinerinnen ist es auch im Sinn der in Hospiz und Palliative Care arbeitenden Kolleg:innen, dass die Menschen so lange wie möglich selbstbefähigt bleiben und nur so kurz wie möglich pflegebedürftig sind.
Der Vorteil ist, dass ein rehabilitativer Ansatz nicht teurer ist, als ein konventioneller „versorgender“ Ansatz. Erste Zahlen zeigen, dass die Gesamtkosten sinken – zum Beispiel, weil dadurch weniger Pflegeleistungen gebraucht werden – und (unnötige) Krankenhauseinweisungen seltener geschehen.
Symptomkontrolle bedeutet nicht automatisch, dass die Lebensqualität verbessert wurde.
Was ist wichtig, zu beachten? Ja, selbstverständlich sollen auch „typische Rehabilitationsberufe“, wie Physiotherapie, Ergotherapie, Diätologie oder Logopädie verstärkt zum Einsatz kommen. ABER: der rehabilitative Ansatz ist ein Teamprojekt. Zum Beispiel:
- Werden in den Teams tatsächlich betroffenenzentrierte Ziele formuliert und verfolgt? (Was möchten / müssen Sie unbedingt wieder selbst tun können? Was ist für Sie eine sinnstiftende und bedeutsame Aufgabe? Welche körperlichen / planerischen / befähigende Unterstützung und Fähigkeiten brauchen Sie dazu?)
- Werden der Verbesserung der Funktionsfähigkeit, also auch der Körperfunktionen und aller Aktivitäten (Handlungen, Aktionen und Fertigkeiten) genauso viel Wert beigemessen, wie der Linderung der Symptome?
- Kennen und nutzen wir die körperlichen, kognitiven, sozialen (…) Potenziale der Betroffenen, die zu einer verbesserten Selbstbefähigung führen?
- Bedenken und organisieren Teams und Entscheidungsträger:innen frühzeitig Zuweisungen zu rehabilitativen Maßnahmen, um diese Potenziale zu nutzen und die Ziele zu erreichen?
- Nutzen alle Berufsgruppen ihre Potenziale, Betroffene zu befähigen? Oder bräuchten Sie diesbezüglich mehr Kenntnisse?
- Welche Rolle spielt die Edukation der Betroffenen?
Befähigende Angebote haben vielfältige Vorteile. Sie befähigen körperlich, sie fördern Selbstidentität, sie ermöglichen soziale Teilhabe, sie machen unabhängig(er), sie reduzieren das Gefühl, eine Last für andere zu sein, sie lindern Angst und Depression, sie fördern Wissen. Und sie bringen Betroffene, erkrankte Menschen wie auch deren An- und Zugehörige, in eine aktive Rolle.
Ich glaube, so möchte ich am Lebensende „versorgt werden“.
Zum Autor
Rainer Simader leitet das Ressort Bildung bei HOSPIZ ÖSTERREICH, ist begeisterter Physiotherapeut, wenn auch nicht mehr klinisch tätig, er ist Vorstandsmitglied der Österreichischen Palliativgesellschaft (OPG), und leitet dort die Arbeitsgruppe MTD-Berufe, Heilmasseure und Musiktherapeut:innen. Gemeinsam mit Brigitte Loder-Fink (Ergotherapeutin) ist er Lehrgangsbegleiter des Vertiefungslehrgangs für MTD-Berufe im Universitätslehrgang Palliative Care.